Grafschafter Schulgeschichte

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BBS-22

Entwicklung des Berufsbildenden Schulwesens in der Grafschaft Bentheim

Die Berufsschule 1921

von Handelsschuldirektor R. Wefelmeyer

Was ist die Berufsschule? Was will sie? Wir alle kennen sie unter dem Namen "Fortbildungsschule". Viele verstehen darunter eine Einrichtung, die man mit mehr oder weniger Widerwillen besuchen muss, und in der Volksschulwissen mit mancherlei Drum und Dran wieder aufgewärmt wird. Von dieser Schule spreche ich nicht. Sie war den Schülern gleichgültig, den Meistern eine Last und den Lehrern ein Gegenstand vergeblicher Liebesmüh. Sie gehört heute der Vergangenheit an.

Auch von jenen Schulen spreche ich nicht, die aus natürlicher Abneigung gegen die alte Wiederholungsschule als Fachschule entstanden, und auch in unserer Gegend etwa seit den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts von einzelnen Betrieben, Innungen usw. eingerichtet und unterhalten wurden. Ihr Ziel blieb nicht selten darauf beschränkt, die Schüler zu befähigen, dass sie aus dem im Unterricht Gelernten einen unmittelbaren wirtschaftlichen und technischen Vorteil für die Arbeit in der Werkstatt zogen, der sich womöglich für den Meister gleich wieder in Mark und Pfennig umrechnen ließ.

Die Schulen hatten keine Bildungsideale; sie wurden dem inneren Werden des jungen Menschen nicht gerecht. Als Ersatz für die Berufsschule können sie nicht angesehen werden. Sie sind seit reichlich zehn Jahren im Absterben begriffen. Aber der Gedanke, dass es erster und womöglich einziger Zweck der Berufsschule sei, die in der Ausbildung befindlichen jugendlichen Menschen auf einen bestimmten Berufszweig oder gar Betrieb zu dressieren, spukt noch heute in manchen Köpfen herum.
Ostern steht vor der Tür. Für die Kleinen naht der erste Schultag, für die Großen der erste Arbeitstag im Berufsleben. Die schicksalsschwere Frage: Was soll der Junge werden? Was wollen wir aus dem Mädchen machen? ist gar oft im Familienrate erörtert worden.

Wir haben uns längst daran gewöhnt, den Hausfrauenberuf nicht mehr als den selbstverständlichen und einzigen Wirkungskreis der Frau zu betrachten. Gewaltige wirtschaftliche Umwälzungen, vor allem ein scharf ausgeprägtes Spezialistentum, aber auch veränderte Sitten, Anschauungen und Rechtsgrundlagen haben völlig neue Zustände geschaffen.

Es genügt nicht mehr, dass der Junge sein Handwerk erlernt und das Mädchen die Mutter unterstützt, bis sich ihr ein eigener Pflichtenkreis im eigenen Haushalt erschließt. Der Kampf ums Dasein und das Verlangen nach der Teilnahme an den Kulturgütern der Menschheit zwingt beide, sich auf den Lebensberuf einzustellen und dafür die höchstmögliche praktische und theoretische Ausbildung zu erreichen.

Die Ausbildung dieser jungen Menschen erfolgt in der Berufsschule. Ihre Grundlagen sind durch die Reichsverfassung gegeben, welche bestimmt, dass die an die Volksschulpflicht anschließende Fortbildungsschulpflicht bis zum vollendeten 18. Lebensjahr dauert, und dass alle Schulen sittliche Bildung, staatsbürgerliche Gesinnung, persönliche und berufliche Tüchtigkeit im Sinne des deutschen Volkstums und der Völkerverständigung zu erstreben haben.

Die Ziele der Berufsschule sind nach diesen Bestimmungen und den besonderen Zwecken, denen sie zu dienen bestimmt ist, klar gegeben: Förderung der beruflichen Ausbildung und Mitwirkung an der Erziehung zu tüchtigen Staatsbürgern und Menschen.

Das nächste Ziel jeder beruflichen Ausbildung muss auf die Ertüchtigung und Gesunderhaltung des Körpers und Geistes gerichtet bleiben. Schon auf den ersten Stufen des menschlichen Wirkens entscheiden Gesundheit und Kraft über den Erfolg.

Ein kräftiges und frisches Aussehen ist für jeden eine gute Empfehlung. Allgemeine Gesundheits-, Körper-, Kleidungs- und Wohnungspflege, besondere Behandlung der Berufskrankheiten, der Schädlichkeit des Tabaks, Alkohols und Staubes stehen deshalb neben dem Turnen, Spiel und Sport an hervorragender Stelle im Lehrplan der Berufsschule. Sie werden unterstützt durch die Einrichtungen der freiwilligen Jugendpflege. Sie haben erhöhte Bedeutung gewonnen, seitdem die allgemeine Wehrpflicht abgeschafft ist und die jungen Leute beiderlei Geschlechts nach Einführung der achtstündigen Arbeitszeit zu einer vernünftigen Anwendung ihrer freien Zeit geführt werden müssen.

Im Mittelpunkt des gesamten Unterrichts steht die Berufskunde. Sie gliedert sich in die besondere Fachkunde für die einzelnen Berufszweige, die Geschäftskunde, Lebens- und Bürgerkunde. In der Fach- und Geschäftskunde führt der Unterricht zum technischen Können in dem Umfange, wie es die Ausbildung eines Lehrlings verlangt. Für die Mädchen, welche in einem kaufmännischen oder gewerblichen Berufe tätig sind, ist die Fachausbildung von vornherein zwiespältig: die Ausbildung für ihre Aufgabe als spätere Hausfrau und Mutter und die für ihren gewählten Beruf.

Der Unterricht in der Berufskunde bezweckt, das Verständnis für den Beruf zu vertiefen, die Schüler zu denkendem, pflichtbewußtem Arbeiten zu erziehen, den Zusammenhang des Einzelnen und seiner Berufsarbeit mit dem Gemeinschaftsleben in Familie, Werkstatt, Gemeinde, Staat und Reich zum Bewusstsein zu bringen, das Werden und Wesen wichtiger Einrichtungen des öffentlichen Lebens zu erklären.

Ehrfurcht vor der Rechtsordnung und Liebe zur Heimat und Vaterland zu pflegen und Ziele für die freudige Mitarbeit der Schüler im Staate vor Augen zu stellen. Nach der negativen Seite hin wendet sich das Prinzip der Berufsschule gegen die Richtung der älteren Volksschule, die in der Vereinigung elementarer Kenntnisse ihr Ziel sah; es wendet sich darüber hinaus gegen die Einseitigkeit des intellektuellen Kulturbegriffs überhaupt, der auch unsere höheren Schulen beherrscht.

Der wahre Wert des Menschen liegt nicht im bloßen Wissen und Können. Er ruht im Wollen, in der lauteren, edlen Gesinnung. Die Kraft des Willens und der Liebe liegt im Menschen tief verborgen. Sie muss geübt werden, sonst schläft sie ein, und der Mensch wird ein Schwächling. Das Prinzip der Persönlichkeitsbildung, der Erziehung zum Gemüt und Willen, beherrscht deshalb auch den gesamtem Unterricht in der Berufsschule; dies ist um so notwendiger, als die Berufsarbeit den Jugendlichen in seiner Herzens- und Willensbildung verkümmern lässt.

Jede vielseitige Ausbildung ohne gleichzeitige Sammlung der Seelenkräfte in einem großen, alles durchdringenden Lebensideal muss in den Jahren, die man als die Flegeljahre zu bezeichnen pflegt, unmittelbar zur Charakterlosigkeit, zum geistigen Bankrott gegenüber den Elementargewalten im eigenen Inneren führen. Je mehr die moderne Arbeitskultur und Staatsverfassung der persönlichen Verantwortlichkeit, Initiative und Freiheit des Einzelnen bedarf, umso notwendiger wird es, diese Freiheitskräfte durch scharfe Gewöhnung an Zucht, Ordnung und gesittetes Betragen vor der Entartung zu bewahren.

Wie viel Missverständnisse, soziale und politische Kämpfe blieben unserem Volkskörper erspart, um wie viel produktiver und intensiver würde die gesamte Volkswirtschaft gestaltet werden können, wie müsste das Bildungsbedürfnis unseres Volkes wachsen, welchen Zulauf müssten Volkshochschulen und Sportvereine haben, wie viel Einrichtungen der Armenpflege, Gefängnisse und Polizeiorgane wären in Deutschland überflüssig, wenn alle Jugendlichen durch die stramme Disziplin der Berufsschule gegangen wären!

Quelle: Der Grafschafter, 16.3.1921
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